Montag, S11 nach Winterthur. Menschen mit Masken, Handys und Jacken. Jacken, weil’s kalt geworden war, gestern und auch vorgestern schon.
„Der Herbst ist da“, behauptet Veilchenblau, doch grün-grüner könnten Bäume nicht sein, stelle ich fest, und zeig nach draussen, wo‘s noch dunkel ist. „Auch das wird sich ändern“, antwortet sie zerstreut, und vertieft sich wieder in ihre Zeitung. „Nichts ändertjemals“, sag ich einfach mal so, und stelle die Tasse geräuschvoll in die Spüle. Veilchenblau aber bleibt stumm, und liest, möchte man meinen, doch ganz so genau lässt sich das nicht bestimmen. Trump blickt mich von der Titelseite her verkehrt rum an, nein, schaut an mir vorbei, irgendwohin, wo er Zukunft vermutet. Seine Zukunft, klar, irgendwo dort hinter meinem Rücken. „Nichts ändert jemals“, wiederhole ich etwas lauter, weiss aber selbst kaum, was ich damit meine. Ein bisschen von allem wahrscheinlich, den Herbst, die Jahreszeiten, Trump, vielleicht sogar uns, Veilchenblau, mich, diese Wohnung, der Job, und plötzlich schiesst mir das Salz in die Augen. Verdammt nochmal, das darf doch nicht wahr sein!
Montag, S11 nach Winterthur. Menschen mit Masken, Handys, und Jacken. Jacken, weil’s Herbst geworden war, und ich’s nicht bemerkt habe.
Ich und die anderen, Anderen oder anderen, jedenfalls Ich und jene, welche nicht mich. Oder doch? Nicht?
Das Andere, soviel ist klar, bedeutet alles, was nicht Mich gleich Nichtmich, noch besser aber umgekehrt, Mich als jenes, was nicht Nichtmich, oder nicht nicht Mich.
Mich mein Bewusstsein, und Ich, was man so sagt, aber nicht weiss, aufgeblitzt im seltenen Bruchteil eines Moments, obwohl ebenso es Spiegelung sein könnte, dort, wo Mich und das Andere aufeinandertreffen, und Bewusstsein zum Beispiel von Mir entsteht.
Dann die Frage, ob Hier & Jetzt und Ich zusammenpassen, Ich ins Hier & Jetzt, oder sich passen lässt, passen lassen will, weil sind ja kein Nest, die beiden, allzuoft nicht jedenfalls, wie ich meine, sondern blosser Umstand.
Nicht Ich & Du, versteh mich nicht falsch, darum geht es hier nicht, weil Du & Ich, das stimmt perfekt, Du und Ich, die wir unser eigenes Gravitationszentrum bilden, diesen Schwerpunkt, der irgendwo dazwischen liegt, um den wir kreisen in mal näheren, mal weiteren Bahnen, ohne zu kollidieren, oder uns zu verlieren, was beides ungünstig wäre, traurig sogar im Hier & Jetzt, das sich um uns krümmt, und uns Schale bildet.
Ich sitze am Küchentisch, und falte die Hände. Nicht zum Gebet, das nicht, aber ich falte die Hände, und lege sie auf den Tisch.
Zigarettenpaket, Aschenbecher, und Zündholzbriefchen, drei, die zusammen gehören. Zusammen? Aus meiner Sicht. Für mich gehören sie zusammen. Dem Aschenbecher aber läuft’s am Arsch vorbei, total am Arsch vorbei. Er wäre lieber Tasse, doch das geht ja nicht. «Das geht nicht», sage ich zu ihm, «du kannst keine Tasse sein, da fehlt dir Form, sozusagen, zudem sind die Würfel längst gefallen, Alea und so. Weil du bereits determiniert bist. Vorbestimmt. Zum Aschenbechersein. Schau bloss, wie ich meine Zigarette an dir abschnipse, wie ich in dich asche.» Ich mache es ihm vor, und übertreibe ein bisschen. «Sowieso, wie kommst du auf Tasse», enerviere ich mich, «dafür bist du zu flach. Vieeeel zu flach. Betrachte bloss mal die Kerbungen hier am Rand. Wie soll man da aus dir trinken?» «Dann eben Teller», brummelt er kleinlaut, und rutscht unmerklich Richtung Tischrand. «Man kann nicht einfach sein, was man will», fahre ich ungeduldig fort, «Freiheit besteht nicht in der Wahl, sondern Wahl der Wahl. Du bist nun mal Aschenbecher, und Tasse eben Tasse. Klar, wäre auch die gerne Krug, und Krug seinerseits was weiss ich, Vase womöglich, doch Tasse ist Tasse, Krug Krug, und du halt Aschenbecher, ob’s dir passt oder nicht.» Das war jetzt vielleicht ein wenig heftig, aber anders kapiert er‘s einfach nicht. «Am Ende sind wir alle Scherben», flüstert er beinahe unhörbar, und rückt noch näher zum Tischrand, worauf ich ihn resolut zurückschiebe. «Du kannst tausend Mal Tasse sein wollen», antworte ich, «kannst sogar wirklich Tasse sein, aber halt bloss für dich, in deiner Vorstellung, deiner höchsteigenen Vorstellung. Kannst dir noch und nöcher repetieren, dass du Tasse bist, es dir einreden, dir dein Tassensein am Ende gar glauben, und dich womöglich daran erinnern, immer Tasse gewesen zu sein, nichts anderes als Tasse, Tasse, Tasse, was aber nicht heisst, dass du wirklich eine bist, also vergiss es. Vergiss. Es. Einfach. Letztlich zählt einzig, was andere in dir sehen. Was ich in dir sehe, zum Beispiel, denn du bist, was ich alleine in dir sehe.»
Obwohl ich mir für einen ganz kurzen Augenblick tatsächlich überlege, ihm die Freude zu machen. Ihn gründlich abzuwaschen, und Kaffee daraus zu trinken. Ein Mal. Einmal? Aber so läuft das nicht, stell dir bloss vor! Tasse Teller, Teller Vase, und Vase Blumentopf? Nicht mit mir jedenfalls. Mit mir nicht. Doch gerade, als ebendieser kurze Augenblick zu Ende geht, fällt er zu Boden. Rutscht irgendwie vom Tisch, und zerbricht. Worum ich ihn nicht wenig beneide. Dass er jetzt Tasse ist. Teller. Von mir aus auch Vase. Oder Krug.
Dann mal ehrlich. Ich bin Führungskraft. Sogenannt. Führung plus s plus Kraft. Lass Dir das mal im Munde zergehen.
Also erstens ist da der Bildschirm. (Mein Screen.) Und dann noch das Telefon. Da nehme ich also (beim dritten, immer dem dritten Klingeln) den Hörer ab, und melde mich. Mach klar, wer ich bin, nämlich die Scheffin. Deine Scheffin. Wahrscheinlich aber habe ich sowieso keine Zeit, bestimmt habe ich keine Zeit, du sollst schliesslich nicht auf die Idee kommen, ich sässe bloss auf meinem Hintern rum. „Oh“, säusle ich dann mit spitzen Lippen, „Kann das noch warten, Liebes? Rufst du später nochmals an? Morgen vielleicht? Oder nääächste Woche?“ Du weisst schon, weil ich so verdammt viel zu tun habe. Wegen dem Screen einerseits, aber auch sonst so. Übrigens, wann immer möglich, spreche ich in der ersten Plural. Das lernt man in diesen Kursen, die einfach mal schweineteuer sind, und am Ende ein Papier winkt. Mehr nicht. In meinem Fall aber ist das dann eher monarchisch gemeint. Das royale Wir halt. Er und ich im selben Boot zum Beispiel, nicht aber du, sorry. Im Dezember zum Beispiel führen Wir unser Zielvereinbarungsgespräch, wo du dann beurteilt wirst. Was die so wollen, sie, die keinen Namen tragen, das System eben. Du aber machst einen super Job, was jede checkt, die Augen und Ohren hat, schmeisst den Laden, sind wir mal ehrlich, alle Achtung deswegen, aber zur A-Bewertung reicht‘s halt doch nicht. Wär ja noch! Da fragte man sich unweigerlich, weshalb du am Ende etwa nicht etwa meinen Job machst, Screen und alles, Telefon sogar. Und der gepolsterte Sessel. Man hielte dich für unterfordert, obwohl du ja immer wieder betonst, wie glücklich du bist, „Happy“, sagst du immer wieder, und ich glaub‘s dir gerne. Man sieht es dir auch an. Und ich? Ach scheiss drauf!
K lässt nicht los. Mich nicht los. Dabei braucht es immer 2. Er aber sagt, das sei Quatsch. Einer genüge. EineR. Dann Veilchenblau. Die ich mal so nenne. Wegen der Augen, klar. Veilchenblau. Streicht mir über den Rücken. Hält mich. Und ich muss lachen. Immer wieder neu. Das gilt dann mal.
Gestern noch Party, sozusagen, dort, auf der anderen Seite der Geleise, Paul nach Paul, und ein Haufen Schokoladekekse, die ich einen nach dem andern in mich reinstopfe.
AnnA, die rumsteht, und Leute betrachtet, Menschen mit Käsegesichtern, wegen dem gelben Licht einer Strassenlaterne, das durch schmutzige Fensterscheiben rinnt. Menschen, die lachen, Lippen bewegen, und einander sich zuneigen wie Rokokotanz, mit steifem Torso, Hände hinter dem Rücken. Das alles wegen Covid, böser, böser Covid! Dann die anderen, Superspreader-like, trotzig rotzig Nahbereiche penetrierend, dass geradewegs sie sich in den Schatten einer Säule verzieht. Sie also ich gleich AnnA. Die Band spielt den Blues, und einer besingt verlorene Lieben, zwischendrin genuschelte Ansagen, die keine versteht. Ein Mädel tanzt verloren zur eigenen Musik, und ich staune, wie Arme ihr über den Kopf wachsen, sich ineinander verknoten, verschlingen, während ahmender Schatten an der rissigen Wand länger und länger wird. Bis seltsam abgeknickt er über die Decke züngelt. Ich starre auf die zarten Brüste der jungen Frau, Knospen, die sich unter dem Stoff des weissen Shirts abzeichnen, und folge den Konturen ihres Körpers, behutsam, äusserst behutsam, bis jemand unsanft mich anrempelt und zischt, dass ich es einfach vergessen soll. Vergessen! Doch ist es einer dieser Abende, an denen ich nichts zu entgegnen weiss, kein verdammtes Wort zu entgegnen weiss, bloss Gebäck in mich reinstopfe, und mit Paulbier runterspüle. Mich mal da mal dort hinstelle, in der Hoffnung, dass Perspektive etwas ändere. Doch Perspektive ändert bloss den Blick darauf, und ich bleibe dieselbe, wie auch du, und alle anderen sowieso. Bis ich dann abschleiche, endgültig, mich unbeholfen aufs Fahrrad schwinge, und in Schlangenlinien nach Hause radle, vielleicht ein wenig enttäuscht insgesamt, weil ich nicht matche, nicht passe, nicht dort hinein. AnnA, die Inexistente, Unsichtbare, obwohl es einfach wäre, zu einfach sogar, anders zu sein. Ich falle in mich hinein, rutsche bäuchlings vom bröckelnden Krater zur Sohle, und werde zusammengefaltet. Jeder noch so halbe Gedanke gerät zum knisternden Vogel aus hauchdünnem Papier, Origamiflatterflatter, nutzlos, sinnlos, bis ich die Flamme meines Feuerzeugs darunter halte, und graue Asche zu Boden rieselt. Oder die Dinger wie lästige Mücken an die Wand klatsche. Weiss getünchte Wand mit dem Schatten einer Tänzerin drauf.
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